Der Bundesgerichtshof hat am 13. Mai 2025 eine fundamentale Entscheidung zur Zukunft dezentraler Energieversorgung getroffen. Mit dem Aktenzeichen EnVR 83/20 beendeten die Karlsruher Richter das bisherige Kundenanlagenprivileg und folgten damit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Diese Entscheidung markiert einen Wendepunkt für Mieterstrom-Konzepte und Photovoltaik-Quartierslösungen in Deutschland.
Rechtlicher Hintergrund der BGH-Entscheidung
Die wegweisende Entscheidung basiert auf einem konkreten Fall aus Sachsen. Ein Energieversorgungsunternehmen hatte eine dezentrale Versorgungslösung für zehn Wohnblöcke mit 250 Wohneinheiten geplant. Das Konzept sah zwei Blockheizkraftwerke vor, die Strom und Wärme über ein privates Leitungsnetz an die Bewohner liefern sollten.
LESEN SIE AUCH | Vorsteuerabzug bei PV-Anlagen: Tipps für Mieterstrom-Modelle
Der Projektträger berief sich auf § 3 Nr. 24a Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), wonach Kundenanlagen nicht als regulierungspflichtige Energieversorgungsnetze gelten. Diese Regelung bildete bisher das rechtliche Fundament für viele Mieterstrom-Projekte und lokale Energieversorgungskonzepte.
Die Landesregulierungsbehörde Sachsen und das Oberlandesgericht Dresden lehnten das Vorhaben jedoch ab. Nach einer Rechtsbeschwerde leitete der BGH Ende 2022 ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof ein.
EuGH-Urteil als Grundlage für deutsche Rechtsprechung
Der Europäische Gerichtshof entschied am 28. November 2024, dass deutsche Kundenanlagen-Regelungen gegen EU-Recht verstoßen. Das Urteil mit dem Aktenzeichen C-293/23 stellte fest, dass für alle Stromerzeuger in der EU die gleichen Regeln gelten müssen.
LESEN SIE AUCH | BGH-Urteil zu Kundenanlagen: Höhere Stromkosten drohen
Nach EU-Recht spielt es keine Rolle, ob Strom vor Ort produziert und nur an eine überschaubare Zahl von Kunden verkauft wird. Die deutschen Sonderregeln für Kundenanlagen wurden als unionsrechtswidrig eingestuft.
Auswirkungen auf Mieterstrom-Modelle und PV-Quartierslösungen
Für klassische Mieterstrom-Projekte innerhalb eines einzelnen Gebäudes oder auf einem zusammenhängenden Grundstück ändert sich wenig. Diese gelten weiterhin als Kundenanlagen und profitieren von den entsprechenden Privilegien.
LESEN SIE AUCH | Energiewende: Null-Stromabschlag durch Solarstrom
Die meisten heute üblichen Mieterstromprojekte, also die Versorgung über einen gemeinsamen Netzanschlusspunkt innerhalb eines Gebäudes oder Grundstücks, bleiben legal und regulatorisch unbedenklich.
Quartierslösungen unter verschärfter Prüfung
Anders verhält es sich bei größeren Quartiersprojekten, die mehrere Grundstücke mit mehreren Gebäuden hinter einem Netzanschlusspunkt verbinden. Hier fehlen klare Definitionen auf Basis des EU-Rechts, sodass weitere Klärungen durch die Bundesnetzagentur oder den Gesetzgeber notwendig sind.
Quartierslösungen, die mehrere, nicht unmittelbar aneinandergrenzende Grundstücke umfassen oder öffentliche Wege kreuzen, könnten künftig als regulierungspflichtige Verteilernetze eingestuft werden. Dies bedeutet zusätzliche Kosten und bürokratischen Aufwand.
Regulatorische Konsequenzen für Betreiber | Neue Pflichten für Netzbetreiber
Betreiber von Energieversorgungsanlagen mit Drittnutzerbelieferung gelten unter Umständen als Netzbetreiber. Sie müssen alle energiewirtschaftlichen Vorgaben einhalten, einschließlich:
- Netzentgelte
- Bilanzkreisverantwortung
- Messstellenbetriebspflicht
Erhöhte Compliance-Anforderungen
Wer vor Ort Strom produziert und weiterverkauft, betreibt nach der neuen Rechtsprechung kein Kundenanlagennetz, sondern ein Stromnetz und muss entsprechende Netzgebühren verlangen.Die Leitungsanlagen dienen der Weiterleitung von Elektrizität zum Verkauf an Endkunden und können daher nicht von den Regulierungsvorschriften ausgenommen werden.
Wirtschaftliche Folgen für die Energiewende | Gefährdung der Mieterstrom-Förderung
Die Mieterstrom-Förderung könnte gefährdet sein. Nach geltender Rechtslage ist eine Förderung von Mieterstrom nur möglich, wenn der erzeugte Strom nicht durch ein Netz der allgemeinen Versorgung geleitet wird.
Investitionsunsicherheit in dezentralen Projekten
Die Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen für die lokale Stromversorgung und insbesondere für Mieterstrommodelle. Bislang galten für dezentrale Versorgungsmodelle rechtliche Sonderregeln. Betreiber solcher Anlagen mussten nicht die gleichen regulatorischen Anforderungen erfüllen wie klassische Netzbetreiber.
Innovative Lösungsansätze am Markt
Alternative Geschäftsmodelle entwickeln sich
Einige Unternehmen haben bereits alternative Ansätze entwickelt, die nicht vom EuGH-Urteil betroffen sind. Diese Lösungen unterscheiden sich grundlegend von klassischen Kundenanlagen:
- Bestehende Stromlieferverträge der Nutzer bleiben vollständig bestehen
- Lokal erzeugter Solarstrom wird ergänzend geliefert
- Nutzer behalten jederzeit die volle Markt- und Lieferantenfreiheit
- Keine exklusive Stromversorgung
Rechtlich stabile Zwischenlösungen
Diese neuen Modelle bewegen sich in einem rechtlich stabilen Zwischenraum zwischen Eigenverbrauch und Gemeinschaftlicher Gebäudeversorgung (GGV). Sie bieten:
- Höhere Flexibilität als GGV
- Technische Steuerbarkeit
- Klare Trennung zwischen Netz- und PV-Strom
Handlungsempfehlungen für Projektentwickler | Sofortige Maßnahmen
Für bereits geplante oder laufende Mieterstromprojekte besteht bei klassischen Projekten kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Sie können wie geplant umgesetzt werden. Bei größeren Quartierslösungen ist jedoch eine individuelle Prüfung ratsam.
Langfristige Strategien
Projektentwickler sollten:
- Alternative Geschäftsmodelle prüfen, die nicht auf dem Kundenanlagenprivileg basieren
- Rechtliche Beratung für komplexere Quartierslösungen einholen
- Neue regulatorische Entwicklungen aufmerksam verfolgen
Ausblick und politische Handlungsfelder | Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
Der Gesetzgeber steht unter Zugzwang, neue rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Mögliche Ansätze umfassen:
- Einführung eines neuen regulatorischen Konstrukts für „Arealnetze light“‚
- Anpassung des EEG für Mieterstrommodelle über interne Verteilernetze
- Bessere Nutzung bestehender EU-Ausnahmen für geschlossene Verteilernetze
Europäische Perspektive
Langfristig muss auf europäischer Ebene ein stärkerer Fokus auf dezentrale Versorgungslösungen gelegt werden. Die Strombinnenmarktrichtlinie erlaubt bereits heute Ausnahmen, etwa für geschlossene Verteilernetze oder Bürgerenergiegemeinschaften, die in Deutschland bislang kaum genutzt werden.
Fazit: Wendepunkt für dezentrale Energieversorgung
Das BGH-Urteil markiert einen Wendepunkt für die dezentrale Energieversorgung in Deutschland. Während klassische Mieterstrom-Projekte innerhalb einzelner Gebäude weitgehend unberührt bleiben, stehen größere Quartierslösungen vor erheblichen rechtlichen Herausforderungen.
LESEN SIE AUCH | Solarspitzengesetz 2025: Neue Vorgaben für Photovoltaik
Die Entscheidung macht deutlich, dass der bisherige rechtliche Rahmen für Mieterstrom und Arealversorgung nicht mehr vollständig tragfähig ist. Ohne schnelle gesetzliche Lösungen droht Investitionsunsicherheit in einem wichtigen Segment der Energiewende.
Gleichzeitig entstehen innovative Geschäftsmodelle, die rechtssichere Alternativen zu klassischen Kundenanlagen-Konzepten bieten. Die Energiewende braucht praktikable, unionsrechtskonforme Regeln für dezentrale Versorgungsmodelle – der Gesetzgeber muss zeitnah liefern
Häufig gestellte Fragen zum BGH-Urteil
Können bestehende Mieterstrom-Verträge gekündigt werden?
Bestehende Mieterstrom-Verträge in klassischen Gebäudeanlagen bleiben rechtlich gültig und können nicht aufgrund des BGH-Urteils gekündigt werden. Nur bei größeren Quartierslösungen mit mehreren Grundstücken könnte eine rechtliche Neubewertung erforderlich werden, die jedoch nicht automatisch zur Vertragskündigung führt.
Welche konkreten Kosten entstehen bei einer Einstufung als Netzbetreiber?
Betreiber müssen bei einer Einstufung als Netzbetreiber mit erheblichen Zusatzkosten rechnen: Netzentgelte, KWKG-Umlage, Offshore-Umlage, Konzessionsabgaben sowie Kosten für buchhalterische Entflechtung und regulatorische Compliance. Diese können die Wirtschaftlichkeit von Projekten um 20-40% verschlechtern.
Sind Photovoltaik-Anlagen auf Mehrfamilienhäusern vom Urteil betroffen?
Standard-PV-Anlagen auf Mehrfamilienhäusern mit direkter Belieferung der Mieter über das Hausverteilnetz bleiben unberührt. Kritisch wird es erst bei PV-Anlagen, die mehrere separate Gebäude oder Grundstücke über eigene Leitungsnetze versorgen.
Wie wirkt sich das Urteil auf die EEG-Förderung aus?
Die Mieterstrom-Förderung nach EEG könnte bei als Netzbetrieb eingestuften Anlagen entfallen, da diese Förderung voraussetzt, dass der Strom nicht durch ein Netz der allgemeinen Versorgung geleitet wird. Dies betrifft hauptsächlich größere Quartierslösungen, nicht klassische Gebäude-Mieterstromprojekte.
Welche Übergangsfristen gelten für bereits genehmigte Projekte?
Das BGH-Urteil enthält keine expliziten Übergangsfristen. Bestehende Anlagen müssen individuell geprüft werden. Der Gesetzgeber wird voraussichtlich Übergangsregelungen schaffen, um einen abrupten Systemwechsel zu vermeiden und Bestandsschutz zu gewährleisten.
Können Quartierslösungen als geschlossene Verteilernetze betrieben werden?
Ja, größere Quartierslösungen können als geschlossene Verteilernetze nach § 110 EnWG angemeldet werden. Dies erfordert jedoch einen aufwendigen Genehmigungsprozess bei der Bundesnetzagentur und die Erfüllung spezifischer Kriterien wie überwiegend industrielle oder gewerbliche Nutzung.
Welche Rolle spielt die räumliche Nähe bei der Bewertung von Kundenanlagen?
Nach dem EuGH-Urteil ist die räumliche Nähe nicht mehr entscheidend. Ausschlaggebend ist, ob Strom zu Verkaufszwecken an Letztverbraucher geliefert wird. Selbst kurze Leitungswege zwischen benachbarten Gebäuden können zur Einstufung als Verteilernetz führen.
Sind innovative Mieterstrom-Modelle ohne Kundenanlagenprivileg möglich?
Ja, es entstehen bereits alternative Geschäftsmodelle, die nicht auf dem Kundenanlagenprivileg basieren. Diese Modelle ergänzen bestehende Stromlieferverträge um lokalen Solarstrom, ohne die Marktfreiheit der Verbraucher einzuschränken oder exklusive Versorgungsverträge zu schaffen.
Wie schnell muss der Gesetzgeber reagieren?
Experten erwarten gesetzgeberische Maßnahmen bis Ende 2025, da ohne Klarstellung erhebliche Investitionsunsicherheit droht. Besonders dringlich sind Regelungen für Quartierslösungen und die Anpassung der EEG-Förderbestimmungen an die neue Rechtslage.
Welche europäischen Spielräume existieren für neue Regelungen?
Die EU-Strombinnenmarktrichtlinie bietet Spielräume für Bürgerenergiegemeinschaften, geschlossene Verteilernetze und lokale Energiegemeinschaften. Deutschland nutzt diese Möglichkeiten bisher nur begrenzt, könnte sie aber für rechtssichere Mieterstrom- und Quartierslösungen ausweiten.